Unterscheiden Sie zwischen Reizdarmsyndrom (RDS) und Zöliakie  

 

Fallstudie

Juli 2018: Hanna, eine 30-jährige Frau aus Hamburg, leidet seit über einem Jahrzehnt unter gesundheitlichen Beschwerden, als sie im Juli 2018 einen Termin bei ihrem Hausarzt vereinbarte.

2002–2005

Zwischen ihrem 14. und 17. Lebensjahr stellte sichHanna mehrmals wegen Bauchkrämpfen und Magenbeschwerden im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme in der Hausarztpraxis vor. In dieser Zeit riet ihr der Hausarzt, auf eine gesunde, abwechslungsreiche und ballaststoffreiche Ernährung zu achten.


 

2007

Im Alter von 19 Jahren wandte sich Hanna wegen Essbeschwerden, Bauchschmerzen, leichtem Durchfall und allgemeinem Unwohlsein/Müdigkeit wieder an ihren Hausarzt. Ihr großes Blutbild und die Hämatokritwerte waren normal. Daraufhin wurde sie zu einer Darmspiegelung überwiesen, bei der keine Auffälligkeiten festgestellt wurden. Der Hausarzt teilte Hanna mit, dass die wahrscheinlichste Ursache für ihre Symptome das Reizdarmsyndrom (RDS) sei. Es wurden keine weiteren Untersuchungen durchgeführt.


 

Gastrointestinale Symptome allein können nicht sicher zwischen Zöliakie und RDS unterscheiden;1 organische Erkrankungen wie eine Zöliakie sollten vor einer Diagnose von RDS ausgeschlossen werden.2

Zöliakie hat eine Prävalenz von 1 % in der Allgemeinbevölkerung3 und bis zu 4,7 % bei Patienten, bei denen anhand von Symptomkriterien ein RDS diagnostiziert wurde.

 

 


 

2011–2017 

Zwischen 23 und 29 Jahren hatte Hanna drei komplizierte Schwangerschaften. Bei allen drei litt sie in den letzten beiden Trimestern an intensivem Pruritus, mit sehr hohen Konzentrationen an Serumbilirubin und Alaninaminotransferase. Als Ursache wurde eine Schwangerschaftscholestase bestimmt, und der Pruritus löste sich spontan in der postnatalen Zeit. Alle drei Kinder waren Frühgeburten.


 

Zöliakie wird mit hohen Fehlgeburtsraten, intrauteriner Wachstumsverzögerung, niedrigem Geburtsgewicht und Frühgeburtlichkeit in Verbindung gebracht.

 

 


 

Juli 2018  

Zum Zeitpunkt ihres Hausarzttermins im Juli 2018 hatte Hanna bereits seit 11 Jahren mit ihren Darmsymptomen zu kämpfen. 


 

Hanna, 30 Jahre alt: „Die Schmerzen und die Krankheit nehmen so viel Raum in meinem Alltag ein.

Hannas Symptome hatten sich im Laufe der Jahre verändert; sie hatte jetzt einen sehr schlechten Appetit, Gewichtsverlust und Hautausschläge sowie Blasenläsionen auf ihren Ellbogen.

Hannas Hausarzt ordnete Schilddrüsenfunktionstests an und prüfte ihren Vitamin-D-Spiegel.

  • Schilddrüsen-stimulierendes Hormon (TSH): hoch (5,2 mU/l)
  • Freies Thyroxin (FT4): untere Normalgrenze (12 pmol/l)
  • Vitamin D: niedrig (18 nmol/l)

Der Hausarzt vermutete, dass Hannas Vitamin-D-Mangel die Ursache für viele ihrer Symptome sein könnte und verschrieb ihr einmal täglich Cholecalciferol-Kapseln (1.400 IE). 

 

 


 

Januar 2019: Folgetermin nach 6 Monaten 

6 Monate später war Hannas TSH noch leicht erhöht, ihr FT4 befand sich noch an der unteren Normalgrenze, und ihre Vitamin-D-Werte waren wieder normal. Da sie keinen Vitamin-D-Mangel mehr hatte, der vermutlich die Ursache ihrer Erkrankung war, fühlte sie sich unter Druck gesetzt, sich „besser zu fühlen“. Ihre Symptome hatten sich jedoch nicht verbessert.


 

Hanna:

  • Schlief jeden Tag 9 bis 10 Stunden
  • Hatte trockene, blasige Haut an ihren Ellenbogen
  • Litt unter Depressionen und Stress

Inzwischen hatte sie sich so sehr an ihre Darmprobleme gewöhnt, dass sie sie nicht mehr wahrnahm; sie waren Teil ihres Alltags geworden.

Zu dieser Zeit begann Hanna, ein Tagebuch zu führen, und stellte fest, dass ihre Symptome mit dem Verzehr von Nahrungsmitteln zusammenzuhängen schienen, ohne dass jedoch ein klares Muster erkennbar war, mit welchen Nahrungsmitteln sie in Verbindung gebracht werden konnten. 

 

 


 

Juli 2019: 6 Monate später stattete Hanna Ihrem Hausarzt wieder einen Besuch ab.

Im Alter von 31 Jahren hatten sich Hannas Stuhlgewohnheiten deutlich verschlechtert, weshalb sie erneut ihren Hausarzt aufsuchte. Sie zeigte ihrem Hausarzt das Tagebuch, das sie bisher geführt hatte. Der Hausarzt beschloss daraufhin, einen Test auf Zöliakie und Nahrungsmittelallergie durchzuführen. Da bei ihr auch ein leicht erhöhter TSH-Wert festgestellt wurde, veranlasste der Hausarzt zusätzlich einen Test auf Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse.


 

Hannas Bluttestergebnisse waren wie folgt:

  • Gewebstransglutaminase (tTG) IgA: positiv (118 U/ml, 12x ULN)
  • Gesamt-IgA: normal (2,1 g/l)
  • Spezifisches IgE gegen eine Reihe von Nahrungsmittelallergenen, einschließlich Weizen: negativ (<0,1 kUA/l)
  • Anti-Thyroid-Peroxidase (TPO)-Antikörper: positiv (2.400 IU/ml) 

tTG IgA ist der empfohlene First-Line-Test für die Zöliakie, zusammen mit Gesamt-IgA, um einen IgA-Mangel zu prüfen.

 

 


 

Neue Diagnose

Basierend auf den Ergebnissen ihrer letzten Bluttests und nach Bestätigung durch einen Gastroenterologen wurde Hannas primäre Diagnose von RDS auf Zöliakie geändert. Hanna wurde geraten, eine strikt glutenfreie Ernährung zu beginnen, ihr Tagebuch weiterzuführen mit besonderem Augenmerk auf die Protokollierung von Nahrungsmitteln und Symptomen. 


 

Hanna, 31 Jahre alt: „Endlich gibt es ein Bluttestergebnis, das die Ursache für einige der vielen Symptome gefunden hat, unter denen ich seit vielen Jahren leide.

Aufgrund Hannas stark erhöhten Anti-TPO-Antikörpern überwies der Hausarzt sie an einen Endokrinologen. 

Es dauert durchschnittlich 13 Jahre, bis eine Zöliakie korrekt diagnostiziert wird.

 

 


 

September 2019


 

Hannas Endokrinologe führte weitere Schilddrüsenfunktions- sowie Antikörper-Tests durch und stellte eine subklinische Hashimoto-Thyreoiditis fest. Dies erforderte keine Behandlung, sollte jedoch alle 3 Monate überprüft werden. 

Bei bis zu 26 % der Patienten mit Zöliakie werden serologische Anzeichen einer autoimmunen Schilddrüsenerkrankung nachgewiesen.

 

 


 

Juli 2020

Bis Mitte 2020 hatte Hanna ein Jahr lang eine strenge glutenfreie Diät eingehalten. Ihre Darmgewohnheiten verbesserten sich deutlich, aber sie litt immer noch unter Muskelschmerzen, trockener Haut, Unwohlsein/Müdigkeit und Depressionen. 


 

Ihre tTG-IgA-Spiegel fielen (43 U/ml, 4x ULN), aber der TSH-Wert war immer noch erhöht und FT4 war unter die untere Normalgrenze gefallen. Bei ihr wurde daraufhin Hypothyreose neben Hashimoto-Thyreoiditis diagnostiziert und es wurde eine Behandlung mit Levothyroxin begonnen.

Es ist gängige Praxis, dass tTG IgA alle 3 Monate bis zur Normalisierung und einmal jährlich als Indikator für die Einhaltung der Diät getestet wird.

 

 


 

September 2020: Nach 2 Monaten Behandlung


 

Nach 2 Monaten Behandlung mit Levothyroxin war bei Hanna Folgendes zu beobachten: 
  • Der TSH-Wert verbesserte sich und FT4 normalisierte sich
  • Muskelschmerzen waren fast verschwunden
  • Müdigkeit und Depression waren beseitigt    

Hanna, 32 Jahre alt: „Ich bin erleichtert, endlich das Gefühl zu haben, Antworten auf die Unannehmlichkeiten und das Unwohlsein zu bekommen. Aber gleichzeitig fühle ich mich verunsichert und frustriert und habe viele unbeantwortete Fragen. Habe ich es schon lange gehabt? Ich war also WIRKLICH krank - obwohl ich zuvor zu dem Schluss gekommen war, dass es wohl etwas Psychisches und nicht etwas Körperliches ist.

 

 


 

Würden Sie jemals die Diagnose Reizdarmsyndrom (RDS) stellen, ohne zuerst einen tTG IgA-Bluttest anzufordern, um auf Zöliakie zu untersuchen?

Ja Nein

 

Bei der vorliegenden Fallstudie handelt es sich um eine fiktive Darstellung, bei der ein Modellbild verwendet wurde.

FT4: freies Thyroxin; IgA: Immunglobulin A; IgE: Immunglobulin E; TSH: thyroid-stimulierendes Hormon; tTG: Gewebstransglutaminase; ULN: obere Normalgrenze

1. Rubio-Tapia A, Hill I D et al. ACG clinical guidelines: diagnosis and management of celiac disease. Am J Gastroenterol 2013;108(5):656-676;quiz 677

2. Moayyedi P, Mearin F et al. Irritable bowel syndrome diagnosis and management: a simplified algorithm for clinical practice. United European Gastroenterol J 2017;5(6):773-788

3. Gujral N, Freeman H J, Thomson A B. Celiac disease: prevalence, diagnosis, pathogenesis and treatment. World J Gastroenterol 2012;18(42):6036-6059

4. El-Salhy M, Hatlebakk J G et al. The relation between celiac disease, nonceliac gluten sensitivity and irritable bowel syndrome. Nutr J 2015;14:92

5. Shah S, Leffler D. Celiac disease: an underappreciated issue in women's health. Womens Health (Lond) 2010;6(5):753-766

6. Al-Toma A, Volta U et al. European Society for the Study of Coeliac Disease (ESsCD) guideline for coeliac disease and other gluten-related disorders. United European Gastroenterol J 2019;7(5):583-613

7. Gray A M, Papanicolas I N. Impact of symptoms on quality of life before and after diagnosis of coeliac disease: results from a UK population survey. BMC Health Serv Res 2010;10:105

8. Lauret E, Rodrigo L. Celiac disease and autoimmune-associated conditions. Bio Med Res 2013;2013:127589